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Titel
Der lange Abschied von der Prügelstrafe. Körperliche Schulstrafen im Wertewandel 1870–1980


Autor(en)
Hoff, Sarina
Reihe
Wertewandel im 20. Jahrhundert
Erschienen
Anzahl Seiten
494 S.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Gründler, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster

Schläge mit dem Rohrstock auf Finger oder Gesäß, Ohrfeigen und Kopfnüsse von Lehrerinnen und Lehrern kennen viele Menschen inzwischen nur noch aus Erzählungen von Eltern, Großeltern oder älteren Kolleginnen und Kollegen. Dabei war diese Form der Bestrafung von Nachlässigkeit, Unaufmerksamkeit und „störendem Verhalten“ bis weit nach 1945 besonders in Volks- und Grundschulen nahezu ubiquitär. Dass solche „Prügelstrafen“ nicht nur eine lange Tradition haben, sondern dass um die Berechtigung und Angemessenheit dieser Form von Disziplinierung schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch zahlreiche Deutungskämpfe geführt wurden, zeichnet Sarina Hoff in ihrer Mainzer Dissertation nach. Dabei ordnet sie die Diskurse und Aushandlungsprozesse um die Abschaffung körperlicher Schulstrafen überzeugend in allgemeine gesellschaftliche Transformationsprozesse über vier politische Systeme ein – Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik –, ohne aus dem Blick zu verlieren, dass ein „Wertewandel“ in der Pädagogik nicht zwangsläufig mit Veränderungen des politischen Systems parallel lief. Vielmehr macht sie deutlich, dass die Entwicklungen von Akzeptanz und Legitimation physischer Strafen in den Schulen teils ganz anderen Rhythmen unterlagen.

Zentral für ihre Untersuchung sind zum einen die Standardtexte der pädagogischen Literatur, die sich seit dem 19. Jahrhundert mit körperlicher Züchtigung befassten. In Lexika und Enzyklopädien spürt die Autorin den feinen Veränderungen nach, mit denen die Expertinnen und Experten Köperstrafen erklärten und legitimierten oder ablehnten. Sie kann nachweisen, dass – mit wechselnden Begriffen und Topoi – bis weit ins 20. Jahrhundert eine deutliche Mehrheit aus Wissenschaft und Schulpraxis die Züchtigung von Schülerinnen und Schülern befürwortete. Autorität und (Schul-)Disziplin seien ohne gewaltvolle Strafen kaum aufrechtzuerhalten, argumentierten die Verfechter der Prügelstrafen. Gleichzeitig unterschieden die Befürworter die maßvolle gerechtfertigte Züchtigung im Interesse der Kinder theoretisch nahezu durchgehend von „abzulehnender Misshandlung“ (S. 48). Exzesse waren auch in ihren Augen kontraproduktiv. Gleichzeitig kann Hoff zeigen, dass die Kritik bis hin zur radikalen Ablehnung jeglicher körperlicher Strafen schon deutlich vor 1900 von Pädagogen vorgetragen wurde, deren Meinung jedoch nur von einer Minderheit geteilt wurde.

Zum anderen sind Diskussionen, Verlautbarungen und Erlasse verschiedener Kultusministerien für Hoff wichtige Quellen, anhand derer sie die Rezeption von pädagogischem Wissen und weiteren Expertendiskursen nachverfolgt, zum Beispiel aus der Medizin und der Psychologie. Hieran zeigt sich, dass das Pro und Contra körperlicher Strafen eng mit dem jeweiligen Personal und „Zeitgeist“ verkoppelt war. Besonders deutlich wird das bei den Kultusministerien nach 1945, die sich an den vermeintlichen Schulstandards der Westalliierten orientierten und das Ende der Prügelstrafe eng mit der Demokratisierung der Gesellschaft verknüpften.1 Körperliche Strafen, so der Tenor zahlreicher prominenter Autoren und einiger Kultusminister, seien Kennzeichen einer auf Gehorsam und Unterordnung programmierten Schule und Gesellschaft, die „Kadavergehorsam“ (S. 270) förderten, „autoritäre Charaktere“ im Sinne der Frankfurter Schule und insbesondere Erich Fromms (S. 262f.) sowie „Wachmannschaften für KZ“ (S. 270) produzierten. Entsprechend fertigte man zum Beispiel in Hessen einen ministeriellen Erlass an (1947/49), der Körperstrafen ausdrücklich verbot. Allerdings waren diese Ansichten bei Lehrerinnen und Lehrern sowie in der Justiz weit weniger verbreitet als die Ministerialverwaltung vermutete. Zwar gab es beim Lehrerverband und etwa unter der „städtischen, linksliberalen Leserschaft der Frankfurter Rundschau“ (S. 269) zahlreiche Befürworter des Verbots. Dagegen vermutete die „Hessische Lehrerzeitung“ 1950, dass „mehr als 90 Prozent der gesamten Lehrerschaft das generelle Verbot […] ablehnt“ (S. 267). Ganz ähnliche Verhältnisse herrschten in Bayern (S. 287). Das Beharren auf einem „Gewohnheitsrecht“ der körperlichen Züchtigung von Schülerinnen und Schülern fand in der Justiz und großen Teilen der Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert und offenbar auch nach 1945 weiter Zustimmung. Vor Gericht konnten Lehrerinnen und Lehrer sich darauf berufen und wurden, außer in Fällen besonderer Misshandlungen, vom Vorwurf der Körperverletzung freigesprochen. Ein ministerieller Erlass, so die dominante Meinung in der juristischen Literatur seit den 1930er-Jahren und auch über die Zäsur von 1945 hinweg, könne dieses Gewohnheitsrecht nicht aufheben (S. 294). Damit wurden die durch die Kultusministerien erlassenen Verbote obsolet.

Dass Lehrer und Gerichte sich auf breite gesellschaftliche Unterstützung berufen konnten, macht Hoff immer wieder deutlich, wenn sie auf Petitionen und Versammlungen von lokalen Elterninitiativen eingeht oder aus den Akten Väter und Mütter zu Wort kommen lässt. Durchgehend bis in die 1950er- und 1960er-Jahre war die Mehrheit der Eltern davon überzeugt, dass Ohrfeigen und Kopfnüsse im Repertoire der Erziehungsmittel auch in den Schulen gerechtfertigt seien. Diese Feststellung korrespondierte mit einer Erhebung des Allensbacher Instituts für Demoskopie. Hier antworteten noch 1965 circa 36 Prozent der Befragten, dass körperliche Züchtigung selbstverständlich zur Erziehung gehöre, und immerhin 46 Prozent, dass man „Schläge“ als ultima ratio einsetzen dürfe (S. 333). Und selbst Mitte der 1970er-Jahre sprachen sich angeblich 90 Prozent der Eltern einer Hauptschule in der Vorderpfalz bei einer anonymen Umfrage gegen ein gesetzliches Züchtigungsverbot aus (S. 366). Gleichwohl wurden in den 1970er-Jahren in nahezu allen Bundesländern Gesetze erlassen, die körperliche Strafen in der Schule verboten. Die Autorin weist ausdrücklich darauf hin, dass das nicht das Ende in der Praxis bedeutete. Aber die Verstöße von Lehrerinnen und Lehrern konnten danach erfolgreich juristisch verfolgt werden.

Als ein zentrales Ergebnis ihrer Arbeit hält Hoff fest, dass die Abschaffung des Rechts auf Züchtigungen durch Lehrerinnen und Lehrer nicht auf einfache Transferprozesse aus der wissenschaftlichen Pädagogik zurückzuführen sei, sondern vielmehr auf multidimensionalen Akteurskonstellationen und ihren Eingriffen beruhte. Die Aktionen von Presse, Bürgerrechtsorganisationen, Politikerinnen und Politikern sowie Elternvertretern beeinflussten das Verbot gewaltvoller Erziehungsmaßnahmen mindestens ebenso sehr wie die pädagogische Forschung und Debatte (S. 412). Im Verlauf des Untersuchungszeitraumes von über 100 Jahren hat keine geradlinige Entwicklung stattgefunden, die sich als klare Erfolgsgeschichte beschreiben ließe. Vielmehr war es ein durch Ambivalenzen gekennzeichneter Prozess, der Rückschritte und Beharrungen aufwies. Erst in den 1970er-Jahren, dann aber besonders rasch innerhalb des Jahrzehnts, erließen letztendlich alle Bundesländer gesetzliche Verbote. In den 1970er-Jahren kamen auch die Schülerinnen und Schüler selbst zu Wort und wurden angehört – ein deutlicher Hinweis darauf, wie sehr sich das gesellschaftliche Klima um Schule und Gewalt verändert hatte.2 Die Idee der gewaltfreien Erziehung in der Schule hatte nun eine Mehrheitsposition in Kultusministerien und Lehrerverbänden erreicht. In dieser Verzahnung der Schule mit der Gesellschaft, den feinen Nuancierungen der Entwicklungen und Akteurspositionen sowie dem Herausarbeiten der unterschiedlichen Temporalitäten des „Wertewandels“ liegen die Stärken des Buches.

Sarina Hoff hat eine rundweg gelungene Arbeit vorgelegt, der man Verbreitung über die Grenzen der Geschichtswissenschaften und der Pädagogik hinaus wünscht. Denn die Autorin verdeutlicht, dass spätestens nach 1945 nicht die Verantwortlichen in Ministerien, Verwaltungen und Lehrerverbänden diejenigen waren, die das Recht auf Züchtigung für Lehrerinnen und Lehrer verteidigten. Im Gegenteil wollten diese Akteursgruppen vielfach gewaltärmere Schulen. Sie scheiterten einerseits daran, dass die Landesregierungen und Landesparlamente sich zunächst nicht zu gesetzlichen Verboten durchringen konnten. Andererseits, und das war noch viel gravierender, scheiterten sie an einer Koalition aus Richtern, Lehrern und Eltern, die bis in die 1970er-Jahre bestimmte Formen – zumindest niedrigschwelliger – Gewalt durch die Lehrkörper in Schulen als notwendig verteidigten, akzeptierten und sogar lautstark einforderten. Das war von Region zu Region unterschiedlich, abhängig zum Beispiel von Konfession und Urbanisierungsgrad. Aber im Allgemeinen waren in der Bevölkerung erst ab Mitte der 1970er-Jahre die Züchtigungsgegner in der Mehrheit. Diese Erkenntnisse der Studie wären in einigen aktuellen gesellschaftlichen Debatten durchaus hilfreich, um solche Debatten besser zu kontextualisieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. zum Beispiel Sonja Levsen, Autorität und Demokratie. Eine Kulturgeschichte des Erziehungswandels in Westdeutschland und Frankreich 1945–1975, Göttingen 2019; rezensiert von Dirk Schumann, in: H-Soz-Kult, 25.11.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28605 (16.02.2024).
2 Vgl. dazu unter anderem Till Kössler, Jenseits von Brutalisierung oder Zivilisierung. Schule und Gewalt in der Bundesrepublik (1970–2000), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 15 (2018), S. 222–249, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2018/5589 (16.02.2024).